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Vom Grundgesetz zur Verfassung

Anmerkungen zum Verfahrensvorschlag einer Verfassung vom Volk

von Heinz Kruse

 

Hinweis des Autors: In diesem Beitrag setze ich mich mit Fragen rund um die Themen Grundgesetz und Verfassung auseinander. Es ist ein Diskussions- und Arbeitspapier, das fortlaufend ergänzt, verändert und weiterentwickelt werden kann. Als solches dient es auch aus Grundlage für ein von uns geplantes Symposium zu rechtlichen, politischen und philosophischen Fragen unseres Lösungsweges „Verfassung vom Volk“. Vorab bedanke ich mich bei Karl Waldecker für seine zielführenden Ausarbeitungen, die er mir im Dezember 2015 zur Verfügung stellte.

 

Grundgesetz versus Verfassung

In der politischen Debatte werden fälschlicherweise Grundgesetz und Verfassung parallel gebraucht, indem der Eindruck erweckt wird, das Grundgesetz wäre als Verfassung ausreichend. Dementsprechend bedürfe es keiner Verfassung. Dieser Auffassung haben wir mit unserem Konzept einer Verfassung vom Volk indirekt bereits widersprochen. Zudem ist es auch in der gegenwärtigen Fassung des GG so, dass das Volk die Frage einer Verfassung zu entscheiden hat. Nachfolgend wird die Notwendigkeit, aber auch die Sinnhaftigkeit einer Verfassung vom Volk dargestellt.

Um zu einem eindeutigen Verständnis zu kommen wird hier zunächst eine Klärung des Begriffes Verfassung vorgenommen, um dann in weiteren Schritten darzustellen, wer zur Schaffung einer Verfassung berechtigt ist.

Es besteht m. E. ein weitgehender Konsens dahingehend, dass mit Verfassung eine Grundordnung des Staates und somit unseres Gemeinwesens gemeint ist. Als Grundordnung kommt einer Verfassung ein besonderer Rang im Rahmen unserer umfassenden Rechtsordnung zu. Sie strahlt auf alle Bereiche der Rechts- und Gesellschaftsordnung aus.

Diese Funktion erfüllt das Grundgesetz nur teilweise. Der Regelungsinhalt des Art. 146 GG enthält unzweideutig eine Ablösungsklausel. Diese Ablösungsklausel steht auch nicht im politischen Belieben. Deshalb ist schon die Nichtherbeiführung der Ablösung des GG für eine Verfassung ein durchaus schwerwiegendes politisches Fehlverhalten.

Andererseits ist die Ablösungsklausel des Art. 146 eine Norm, die letztlich auch einen Auftrag an das deutsche Volk darstellt, sich eine Verfassung zu geben.

Im Hinblick auf die Zeit, in der das GG entstand, muss man diesen verpflichtenden Auftrag besonders herausheben. Dieses Gebot aus der Geburtsstande des GG ist entstanden unter dem Eindruck einer damals noch frischen Erinnerung an eine Diktatur. Aber selbst diese Diktatur legte Wert darauf, nicht etwa die Verfassung der Weimarer Republik schlicht zu streichen, sondern sich im Rahmen dieser Verfassung eine Ermächtigung auszustellen, um damit einen Rest Legitimation vorweisen zu können. Das zeigt wie wichtig es ist, mit einer Verfassung auch ein Gegengewicht zur herrschenden Politik zu schaffen. Insofern ist eine in einer Verfassung niedergelegte Grundordnung eine der wesentlichen Voraussetzungen für eine Verhinderung politischen Machtmissbrauches durch beliebiges Interpretieren und Ändern einer dem Text nach demokratischen und humanen Grundordnung.

 

Das Volk als Berechtigter für die Verfassungsschaffung

Wenn die Verfassung eine Rechtsquelle mit herausgehobener Bedeutung ist liegt die Frage auf der Hand, wer für die Schaffung einer Verfassung letztlich zuständig oder besser verantwortlich ist. Wer darf also eine Verfassung schaffen? Denn „Eine Verfassung steht letztlich nicht in sich selbst“ (Bockenförde). Eine Verfassung entspringt vielmehr einer konkreten Lage. Sie wird geformt von Kräften, die unter bestimmten historischen Bedingungen handeln. Denn im Gegensatz zum Gottesstaat, erlangt eine Verfassung nicht Gültigkeit durch die Annahme eines Prinzips (z.B. dem Glauben an einen allmächtigen, Ordnung spendenden Gott). Vielmehr leitet eine Verfassung ihre Entstehung aus einer ihr vorausliegenden Größe ab (Bockenförde). Diese Größe wird in der politischen Philosophie als das Volk gesetzt.

In der Praxis der Verfassungsgebung wird seit der ‚Französischen Revolution‘ das Volk als Träger oder Subjekt der verfassunggebenden Gewalt angesehen (pouvoir constituant). Die Schaffung der Verfassung hat insofern einen rechts- und staatsphilosophischen und einen historisch realpolitischen Hintergrund. Auch Bockenförde weist darauf hin, dass mit der französischen Revolution ein grundlegender Paradigmenwechsel für das menschliche Zusammenleben stattfand i (darauf wird an anderer Stelle nochmals eingegangen). Das historische Ziel der Schaffung eines Verfassungsstaates bestand darin, dem Gottesstaat, also der religiös begründeten Gewalt der Monarchien die autonome und damit ungebundene Entscheidungsgewalt einer Gemeinschaft entgegenzusetzen und mit dieser gemeinschaftlichen Entscheidungsgewalt einen Legitimationsanspruch auf Ausübung von Herrschaftsgewalt anzumelden und politisch durchzusetzen. Damals wie heute gilt, dass die neue Qualität des menschlichen Zusammenlebens (Bockenförde) an der Hoheit des Volkes über die Verfassung hängt. Genau darum geht es auch in unserem Ansatz.

Zeitübergreifend gilt der Satz aus der französischen Staatstheorie: Die Menschen nehmen aus ihrem Willen und ihrer souveränen Entscheidung ihr Schicksal selbst in die Hand. Dieser Satz hat auch in der deutschen Verfassungsentwicklung eine zentrale Rolle, z. B. in der Bewegung für eine Verfassung im Jahr 1848. Dieser Satz schlug sich auch nieder in Fassung des GG in seiner ursprünglichen Form am 8.5.1949. Darin beruft sich das GG ausdrücklich auf die verfassunggebende Gewalt des Volkes. Dies geschieht explizit auch zur eigenen Begründung und Legitimation sowohl in der Präambel und (indirekt) in seinem Schlussartikel (Art. 146). Es ist von daher eindeutig, dass eine Verfassung vom Volk nicht nur eine politische Strategie zur Weiterentwicklung der Demokratie ist, sondern eine Strategie, die dem Auftrag des GG folgt und darüber hinaus in der Kontinuität der deutschen wie der europäischen Verfassungsentwicklung steht.

 

Der provisorische Charakter des Grundgesetzes stellt eine Verpflichtung dar

Bei der Entscheidung für den von uns vorgesehenen Verfahrensweg war von erheblicher Bedeutung, wie die Väter des GG sich die Ablösung des GG durch eine Verfassung vorstellten. Nach damaliger Auffassung des Parlamentarischen Rates sollte die das Provisorium GG ablösende Verfassung nicht als Abänderung des GG entstehen, sondern sie sollte sie originär entstehen.ii Das machte den Art. 79 erforderlich, mit dem Änderungen des GG gleichsam systemimmanent vorgenommen werden könnten. Damit wurde eine Anpassung des GG während seiner Gültigkeitsdauer ermöglicht.iii Diese Anpassung, nach der z. B. die Umformulierung des Art. 146 vorgenommen wurde, ist gleichsam systemimmanent. Der Charakter des GG als eine vorläufige Ordnung wird damit nicht berührt. Und damit sind wir nicht der Notwendigkeit enthoben, das GG durch eine Verfassung abzulösen.

Zwar klingt in der Staatstheorie immer wieder an, dass mit der Wiedervereinigung das GG für das gesamte deutsche Volk gelte. Von daher sei eine förmliche Annahme einer Verfassung schlicht nicht mehr erforderlich. Stellt man jedoch auf den Wortlaut der Verfassungsnorm ab, ist festzustellen, dass nach wie vor zwischen dem GG und der Verfassung unterschieden wird. Deshalb spricht alles dafür, dass die ursprünglich vorgesehene Volksabstimmung über eine Verfassung nach wie vor aussteht.

Zudem würde die Ausweitung des GG durch politischen Beschluss die ursprünglich fehlende Volksabstimmung nicht heilen. Im Falle des GG keine demokratische Abstimmungsprozedur über die Verfassung gegeben. Änderungen des GG nach Art. 79 können diesen Mangel nicht heilen.iv Entsprechend gibt es auch nur indirekte Mittel und Wege, um den Abstand zwischen Grundgesetz und Verfassungswirklichkeit, zwischen Legitimationsversprechen und Realität zu vermindern.v Insofern ist die Aufschiebung der Volksabstimmung über eine Verfassung letztlich eine gegen die Souveränität des Volkes gerichtete Maßnahme der politisch herrschenden Kräfte.


Verfassung als prozedurale Ordnungsgrundlage

Im Hinblick auf die derzeitige Selbstprogrammierung der Staatsapparatevi im Rahmen des GG, kann davon ausgegangen werden, dass dieses ‚Schicksal‘ auch einer Verfassung drohen könnte. Deshalb ist von vornherein vorzusehen, dass die Hoheit des Volkes über die Verfassung prozedural angelegt wird. Insofern lässt sich sagen, dass eine Verfassung, die auf Volkssouveränität basiert, diese kontinuierlich verankert werden muss. Deshalb ist es aus diesem Grund wichtig, dass mit der Annahme des GG als Verfassung auch die dauerhafte Verfassungshoheit des Volkes in der Verfassung verankert wird. Zu dieser Normierung reicht ein Gesetz nicht aus. Vielmehr müssen die notwendigen strukturellen Voraussetzungen für dauerhafte Verfassungshoheit geschaffen und festgeschrieben werden.

Die Gründe für eine strukturelle Vorgabe liegen nicht nur im möglichen Missbrauch einer Verfassung, sondern auch darin, dass man nicht vom Volk als ‚idealisierte Einheit‘ ausgehen kann. Vielmehr muss man den tatsächlichen Meinungs- und Interessenunterschieden Rechnung tragen. Seit der Systemforschung von Luhmann wissen wir, dass je komplexer Systeme (z. B. Gesellschaften) werden, desto mehr Selektionen müssen sie vornehmen. Entsprechend steigen die Differenzierungen, die wir bereits als Merkmal moderner Gesellschaften identifiziert hatten. Diesen Unterschieden muss man in der kontinuierlichen Hoheit des Volkes über die Verfassung Rechnung tragen. Das geeignete Mittel dazu sind Institutionen und Verfahren. Dort müssen Verfahren, wie die Wahl und Abwahl von Regierungen, Volksentscheidungen, Volksbefragungen etc. zwingend prozedural fixiert sein.vii Erst mit der prozeduralen Verankerung der Volkssouveränität wird es möglich sein, sie kontinuierlich wahrzunehmen. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass die institutionelle und prozedurale Verankerung der Verfassungshoheit, auch eine Plattform schafft, um die traditionelle Form der Gewaltenteilung als ‚funktionsspezifische Gewaltenteilung‘viii weiter auszubauen.ix

 

Subjekte und Form der Abstimmung über eine Verfassung

Die verfassunggebende Gewalt des Volkes steht vor der Verfassung. Alle Gründe für Macht- und Gewaltausübung des Staates, alle Gründe der Demokratiekritik hängen an diesem Ausgangspunkt. x In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wer ist das Volk? Für uns stellen die Wahlberechtigten zu einem bestimmten Zeitpunkt das Volk dar. Wir haben dementsprechend keinen ethnischen und völkischen Volksbegriff, sondern einen Volksbegriff, der als Quelle der Bestimmung des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch Rechtsvorschriften geeignet ist und der sich durch Zugehörigkeit zu einem räumlichen Verbund auszeichnet. Der Grund dafür ist, dass nach unserer Meinung das Volk als Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger nicht unterschiedlich sein sollte, ob es sich im Rahmen einer Volksabstimmung eine Verfassung gibt oder ob es im Rahmen der Verfassung (oder derzeit des GG) seine Wahlverpflichtung oder Wahlberechtigung zu einem Parlament etc. wahrnimmt.

Eine weitere Frage besteht darin, wie das Volk über die Verfassung entscheiden will. Wir haben dazu 2 Wege geprüft, die beide aus unserer Sicht rechtlich angemessen sind. Das Volk wählt in freier und geheimer Wahl eine Nationalversammlung, die z. B. an einen Verfassungskonvent den Auftrag erteilt, eine Verfassung zu erarbeiten oder das Volk entscheidet unmittelbar im Wege einer Volksabstimmung über eine neue Verfassung. Wir haben uns für das Verfahren entschieden, das GG zur Abstimmung zu stellen und mit gleicher Abstimmung zwar textlich nur geringe, hinsichtlich der Qualität jedoch weitreichende Änderungen dabei von vornherein einzubauen.

Neben der Praktikabilität des Verfahrens spricht vor allem auch die höhere demokratische Qualität des Verfahrens für diesen Weg. Wie schon ausgeführt, steht eine Verfassung nicht in sich selbst, sondern sie entspringt einer konkreten Lage. Sie wird geformt von Kräften, die unter bestimmten historischen Bedingungen handeln. Mit der Annahme des GG als Verfassung und vor allem mit der Möglichkeit von Volksabstimmungen und der dauerhaften Verfassungskontrolle, entstehen neue Gestaltungs- und Beteiligungsmöglichkeiten an politischen Entscheidungen. Den dann entstehenden Rahmen ordnungsrechtlich zu formen, schafft einerseits völlig neue Gestaltungsmöglichkeiten, bietet andererseits aber auch neue Möglichkeiten der Partizipation und Kooperation am Verfahren für die Verfassungsentwicklung selbst.xi

 

 

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i Bockenförde, 24f Wissenschaft Politik Verfassungsgericht, Berlin 2011

ii Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses 1948/49, 238f

iii In diesem Zusammenhand wird immer wieder auch Adenauer zitiert, der als Vorsitzender des Rates darauf hinwies, dass man schließlich nicht über Zehn-Gebote beschließen müsse.

iv Wer ist das Volk? Schriften zur Rechtstheorie, Heft 180, S. 18f

v Auf diese Möglichkeiten wird hier nicht weiter eingegangen, da sich die Politik im Gegenteil nicht nur nicht darum bemüht, sondern ihre Aktivitäten sind eher geeignet die Abstände zu erhöhen.

vi Maus, I, Über Volkssouveränität, s. 44 ff, Berlin, 2011

vii Dazu Kruse, Demokratie in einer globalen Welt, Wiesbaden 2015,166 ff

viii Maus, a.a.O. S. 50 f

ix Kruse, Demokratie in einer globalen Welt, Wiesbaden 2015, S. 151 ff, Die hier vorgeschlagenen Modelle stellen über die Sicherung der kontinuierlichen Ausstattung der Volkssouveränität auch einen Ansatz zur materiellen Gewaltenteilung dar.

x Wer ist das Volk, a.a.O. S. 16

xi Kruse, 2015, a.a.O. S. 170 ff

 
 

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