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Die Würde des Menschen

 Heinz Kruse


In Deutschland ist die Menschenwürde im Grundgesetz festgeschrieben.  Die Würde ist unantastbar – so steht es jedenfalls im Grundgesetz. Befasst man sich näher mit ihr, fallen viele ungeklärte Fragen, viele unbestimmte Zusammenhänge und Begriffe auf. Es steht zu befürchten, dass diese Unbestimmtheit nicht zufällig entstanden ist, son­dern herbeigeführt wurde, um politisches Handeln zu legitimieren. Ich befasse mich mit Folgendem:

  1. Begriff

  2. Entwicklung des Begriffes im Verfassungsverständnis der Bundesrepublik

  3. Politischer Gebrauch der Menschenwürde


1 Begriff

Der Gedanke der Würde ist ein fundamental ethischer. Er entzieht sich prinzipiell jeder weitergehen­den wissenschaftlichen Analyse. Er ist transzendental und als Begriff dem der Freiheit vergleichbar. Er steht mit anderen Begriffen nicht auf einer Ebene. Er steht nicht neben anderen Begriffen wie z. B. den Menschenrechten, sondern die Menschenwürde ist die Begründung für Menschenrechte überhaupt. Mit dieser ersten kategorialen Einordnung entzieht sich der Begriff der Menschwürde ei­ner Operationalisierbarkeit, die noch bei den Menschenrechten gegeben zu sein scheint.

In der Formulierung des GG wird diese Unmöglichkeit zur Operationalisierung indirekt zum Ausdruck gebracht. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ kann meinen, sie könne nicht angetastet wer­den oder sie dürfe nicht angetastet werden. Unmittelbar daran schließt sich für mich die nachfolgend zu behandelnde Frage an, ob es ein ‚Recht auf Würde‘ geben kann.

Diese skizzenhaften Vorbemerkungen weisen auf viele Fragen hin. Sie können nicht  abschließend beantwortet werden. Ich will deshalb eine mögliche Debatte mit einer Setzung verkürzen: Die Würde des Menschen ist in dem Sinne unantastbar, dass sie von außen nicht geraubt werden kann. Damit allerdings eröffnet sich eine neue Konsequenz, nämlich die, dass man nur selbst seine Würde verlie­ren kann.

Die Fragen mögen theoretisch erscheinen. Gleichwohl haben sie einen außerordentlich hohen sym­bolischen Stellenwert, vor allem natürlich in Religion und Politik. Ich will dies mit einigen Beispielen deutlich machen:

In der christlichen Religion ist die Kreuzigung bekanntermaßen ein zentraler symbolischer Akt. Nun wurde die Kreuzigung in Rom als Strafe nicht nur deshalb verhängt, weil sie besonders grausam war, sondern vor allem auch deshalb, weil mit der Preisgabe der Qual des Gekreuzigten auch die Nichtmöglichkeit einer Reaktion in Würde verbunden war. Es war eine nach allgemeinen Verständnis ‚objektiv‘ würde­lose Form der Hinrichtung. Dem Gekreuzigten wird die Darstellung der Würde genommen (seine Seinsmächtigkeit). Denn Würde gebietet so etwas wie Distanz, die der Träger der Würde zu sich selbst als Mensch gewonnen hat.

Die Bedeutung der vorgenannten Aussage wird dadurch unterstrichen, dass sich viele der großen Denker und noch mehr Theologen mit der Situation der objektiven Würdelosigkeit des Gottessohnes am Kreuz auseinandergesetzt haben, um die Würde des Gekreuzigten nun eben doch sichtbar zu ma­chen. Sie haben dies letztlich mit dem argumentativen Kunstgriff getan, dass das Kreuz als Schritt zur radikalen Verinnerlichung gesehen und angebetet wird. Die Würde liegt nun darin, die positive An­nahme Würdelosigkeit (ich nehme das für euch auf mich) selbst zum Akt würdevoller oder ‚patheti­scher Erhabenheit‘ zu machen.

Vergleichbar mit den Zielen der in Rom praktizierten Kreuzigung sind viele Vorgänge in den KZ. Die Versuche, die Opfer in entwürdigende Positionen zu bringen, weisen allerdings die Täter als die aus, die ihre Würde verloren haben und nicht die Opfer. Die Debatten, die darum in der Moderne vor allem von Horkheimer und Adorno geführten wurden, lassen im Ergebnis eben nur zu, dass die Würde ein sakraler Begriff ist, der sich wie eingangs festgestellt einer Operationalisierbarkeit ent­zieht. Diese Grenze zu akzeptieren bedeutet eine Bindung auch des politischen Handelns, die ein Austarieren und gegeneinander Aufrechnen von Grundwerten ausschließt. Es gäbe unserer Gesell­schaft auch eine moralische Grundlage, auf der gewisse Bereiche für die Politik tabu wären.


2 Die Entwicklung des Begriffes im Verfassungsverständnis der Bundesrepublik

Die Verfassungsdebatten in der Bundesrepublik bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen, weil es natürlich schwer ist, aus einem transzendentalen Begriff politisch oder juridisch konsequent zu fol­gern. Aber es hat durchaus auch Methode, einer grundsätzlichen Frage durch Einzelfallbehandlung auszuweichen und ihr damit ihren generalisierenden Charakter zu nehmen.  Deshalb soll Würde vorab im minimalen wie im maximalen Verständnis kurz skizziert werden.

Der katholische Moraltheologie Schüller hat in den siebziger Jahren eine Minimalposition skizziert. Sie bedeutet, den vollständigen Ausschluss jeder Operationalisierbarkeit. Die kasuistischen Ableitun­gen aus dem Menschen als Selbstzweck (Selbstzweckformel, Kant) werden damit bezweifelt. Schüller nimmt entsprechend eine fundamental sittliche (göttliche oder besser klerikale) Definition der Würde vor.

Für die Entwicklung von Politik (und ihr vorausgesetzt der Grundgesetzdebatte) ist der maximale An­satz wichtig geworden. Im Gegensatz zur Minimalposition wurde in den siebziger Jahren eine aus­ufernde Auslegung vorgenommen (Maihofer). Diese Position hat eine sehr weitgehende Wirkung auf das GG und auf die Politik. Sie setzt Würde mit Selbstverwirklichung in einem umfassenden außermo­ralischem Sinne gleich. Damit wird Menschenwürde ein Gestaltungsauftrag, weil Würde nicht als et­was Bestehendes, sondern als etwas zu Schaffendes angesehen wird. Automatisch stellt sich die Frage, wer Generator dieses Herstellungsprozesses sein sollte. (Das Prinzip Hoffnung scheint hier durch und es ist nicht erstaunlich, dass sich Maihofer auch auf Bloch bezieht.) Ich komme auf die Fragwürdigkeit dieses Begriffes zurück. Um die praktische Relevanz dieser Fragen zu zeigen, skizziere ich folgend die Rechts- bzw. Verfassungsentwicklung bezüglich dieses Begriffes.

Das Verfassungsgericht hat natürlich die Schwierigkeiten gesehen, aus einem transzendentalen Be­griff logisch zu folgern, um auf eindeutige Ergebnisse oder Interpretationen zu kommen. Bei der in­haltlichen Bestimmung der Menschenwürde war das Bundesverfassungsgericht deshalb eher zurück­haltend. Es definiert die Menschenwürde in jeweils einzelnen Fällen bloß negativ durch Beschreibung von Verletzungen wie "Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung"oder - an anderer Stelle - grausames, unmenschliches und erniedrigendes Strafen.

Einen Versuch, diese Befunde auf den Begriff zu bringen, stellt die an Kants ethische Maximen ange­lehnte sog. Objekt-Formel dar, welche das Bundesverfassungsgericht von Günter Dürig übernommen hat. Danach widerspricht es der Würde des Menschen, ihn zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen.

Eine Objektreduktion des Menschen ist jeweils nur auf Einzelfälle bezogen und insofern nicht genera­lisierbar. Somit verschließt sie der Politik leider (oder natürlich) nicht den Weg, die Würde instrumen­tell in ihr Kalkül zu nehmen. Dies will ich nachfolgend skizzieren, weil es aktuell von großer Bedeu­tung ist. Ob diese Bedeutung dem Verfassungsgericht im vollen Umfang bewusst war, als dies im sog. Abhörurteil verhandelt wurde, ist offen.

Dort hat das Gericht versucht, die Objektformel im Sinne einer auf diesen Fall abgestellten Behand­lung zu präzisieren. Gegen die Menschenwürde würde demnach verstoßen werden, wenn durch staatliches Handeln die menschliche "Subjektqualität   p  r i n z i p i e l l  in Frage gestellt wird“. Dann sei denkbar, dass Eingriffe in die persönliche Sphäre des Menschen eine willkürliche Missachtung der Würde des Menschen beinhalten. Das Verfassungsgericht sieht also die Würde des Menschen be­rührt, wenn durch das Verhalten des Staates und seiner Verwaltung eine Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, zum Ausdruck gebracht wird.

Die Doppelbödigkeit dieser Linie wird deutlich daran, dass diese Formel der Politik den Weg belässt, das Ausspähen der privaten Sphären als Akt der Notwendigkeit (Sachzwang) zu argumentieren. Wenn es sich also nur um Einzelfälle handelt und der Staat damit keine generelle Missachtung der Würde des Menschen vornimmt, ist er offensichtlich an Grenzen nicht mehr gebunden.


3  Politischer Gebrauch der Menschenwürde

Die Frage ist demnach: Wie wird in der politischen Praxis mit der Menschenwürde umgegangen. Die Antwort auf die Frage gibt es mit der praktisch gewordenen Ansicht von Maihofer. Wenn man die Würde als nicht etwas Gegebenes, sondern als etwas Herzustellendes ansieht, ergeben sich daraus gravierende Folgen. Bei allen ethischen Grundsatzfragen ist dann immer auch zu beantworten, wer befugt ist zu definieren, was Menschenwürde ist. Anstatt Grenzen zu setzen, die unverrückbar sind, werden Abwägungsprozesse über einen nicht operationalisierbaren Begriff in das Zentrum der De­batte gestellt.

Der transzendentale Sondercharakter der Menschenwürde hebt sich dabei auf. Sie tritt quasi als ein ‚Wert‘ neben andere. Im politischen Geschäft ist die Menschenrechte begründende Würde des Men­schen plötzlich gleich ‚anderen Rechten‘. Im Vergleich von Menschenwürde und Menschenrechten könnte man oberflächlich glauben, sie sei zu vernachlässigen – obwohl sie es natürlich nicht ist. Denn hat man diesen Schritt erst getan, stellt die Abwägung der Menschenwürde selbst gegenüber techni­schen Sachzwängen (des Geldes, des Arbeitsmarktes, des Wohlstandes etc.) nur ein zu berücksichti­gendes Argument dar.

Wenn man aber davon ausgeht, dass die Würde des Menschen so wenig verwirklicht (politisch herge­stellt) werden kann, wie seine Seele, dann ist sie immer schon existent. Sie kann entsprechend nur als wirklich vorhanden geachtet werden. Die politisch-juristische Handlungsfreiheit reduziert sich dann auf die Grenzbestimmung: Welche Grenze darf auf keinen Fall überschritten werden, um die Menschenwürde nicht zu verletzen. Im Ergebnis bedeutet die Machbarkeit der Würde also eine poli­tische (feudale) Selbstermächtigung.

Wenn man also die Menschwürde als etwas Herzustellendes (Politik) ansieht, ergeben sich völlig an­dere Fragen. Dann ist es z. B. erlaubt zu fragen, wieviel der Menschenwürde man opfern darf, sie also verletzen darf, um andere Ziele zu erreichen. Die Menschwürde wird zum Gegenstand politischer Ab­wägungen.

Dieser in der Hand der Politik liegende Abwägungsprozess kommt anfangs harmlos daher. Etwa in der Frage: Welches Maß der Verletzung menschlicher Würde ist kompatibel mit der Aufgabe, die Menschenrechte zu befördern. Stellt wachsender Wohlstand (natürlich zur Behebung von Armut in der Welt = Menschenrechte) ein abzuwägendes Kriterium dar? Niemand hat die Problematik dieser Veränderung und damit Grenzüberschreitung klarer gesehen als schon Kant. Er folgerte aus dem Selbstzweckcharakter des Menschen nie, dieser Zweck müsse auf irgendeine Weise bewerkstelligt werden. Es gibt eben dazu keinen Herstellungsauftrag und entsprechend keine Herstellungskompe­tenz.

Die Abweichung von der Linie Kants und damit die Überschreitung dieser Grenze durch die Politik sind nicht zufällig und hängen auch nicht primär mit dem Wahn menschlicher Gestaltungsmacht im Sinne einer anmaßenden Allkompetenz zusammen. Hier liegt offensichtlich eine bewusste Verletzung einer letztlich nur ethisch-moralisch gesetzten Begrenzung vor. Mit dieser Grenzüberschreitung wer­den z. B. wirtschaftliche Kategorien (Funktion der Märkte, Wachstum etc.) als Voraussetzung des ge­sellschaftlichen Wohlstandes zum Herstellungsinstrument der menschlichen Würde. Damit aber wer­den alle Voraussetzungen für den Wohlstand (z. B. Wachstum, technischer Fortschritt, Zerstörung der Umwelt usw.) ebenso zu ‚notwendigen Instrumenten‘ im Herstellungsprozess menschlicher Würde. Die Politik würde bei vielen Themenfeldern, wie die Privatisierung der Rente, unwürdige Arbeitsverträge, Zerstörung der Umwelt etc. an die Grenzen ihrer Legitimation durch das GG stoßen. Eine Unterordnung sozialer, kultureller und ökologischer Belange unter die angeblichen Sachzwänge diffuser Märkte würde jeweils die Grenzen der politischen Legitimation berühren. Damit aber wäre der Kern der Macht für eine Parteienherrschaft berührt, die diese Macht jedenfalls dem Schein nach nur durch Demokratie auf der Grundlage des GG begründen kann.

Mit der einmal vorgenommenen und öffentlich akzeptierten Grenzüberschreitung (also der Herstell­barkeit der Menschenwürde) kann also die Politik jede Maßnahme ohne Rücksicht auf die Menschen­würde durchführen, die im Endergebnis eine totale Unterordnung des Menschen unter entwürdi­gende Arbeitsverhältnisse, unter die Notwendigkeiten eines abstrakten Finanzmarktes usw. bedeu­ten. Dies ist – wie wir wissen – beileibe keine Theorie, sondern eine Praxis, die mit der Verkettung von Euro, Finanzmarktliberalisierung, Bankenrettung und Wohlstand technisch rational begründet wird, aber im Ergebnis eine totale Unterordnung des Menschen unter die Bedingungen eines abs­trakten Systems monetärer Spekulationen bewirkt. Man muss eben im Ergebnis nur sehen, dass Landraub in Afrika und Nahrungsmittelspekulationen ebenso als notwendige technische Vorausset­zung zur Erfüllung von Wohlstand angesehen werden, wie die bekannt gewordenen Zeitarbeitsver­träge für osteuropäische Zwangsarbeiter in unserer Fleischindustrie oder Phänomene wie Altersar­mut. Hintergrund ist immer wieder, dass die Unterordnung des Menschen unter technische Operati­onsbedingungen abstrakter Märkte die Fragen nach seiner Würde deshalb ausschließen, weil sich die Politik diesbezüglich einen Gestaltungsauftrag anmaßt.

Man kann nur fragen, ob genau diese Verknüpfung das Verfassungsgericht im Geflecht wechselseiti­ger Programmierungen von Staatsapparaten veranlasst, nur noch Einzelfallentscheidungen zu tref­fen, die letztlich die von Kant vorgegebene Grenzlinie als generelle Vorgabe meidet. Ansonsten hät­ten die vielen Kläger gegen Euro und Rettungsschirme möglicherweise doch Recht in ihren Verfahren bekommen müssen.

Letztlich geht eine konsequente Argumentation also gegen den Gestaltungsauftrag der Politik. Wenn man menschliches Leben als eines in Würde bestimmt, hat dieses Leben einen Anfang und ein Ende. Dies sollte nicht Resultat zweckrationalen Machens (z. B. in einer Retorte) sein. In diesem Sinne war das ‚Menschsein‘ wahrscheinlich nie so bedroht wie im Augenblick.

Die cartesianische Wissenschaft war die zentrale Macht der Zivilisation in der Moderne. Sie hat den Gedanken der Machbarkeit in die Welt gesetzt. Diese Machbarkeit führt angesichts der Ablösung der Moderne durch eine neue Welt zur Unterordnung des Menschen unter Regelwerke, gleich ob diese technisch oder ökonomisch begründet werden. Eine Reform unserer Politik ist notwendig, weil der Machbarkeitsanspruch in Verbindung mit einem selbst gegebenen Gestaltungsauftrag dazu führt, dass sie sich in die Rolle einer feudalen Fürstenherrschaft bringt, in der Begriffe wie technische Ratio­nalität, Wohlstand, Wachstum und systembedingte Handlungszwänge die Begründung der Politik durch Gottes Gnaden (wie z. B. im augustinischen Gottesstaat) ersetzen.


4 Eine Folgerung

Wenn die Menschwürde wirklich unantastbar ist, kommt man um die Grenzbestimmung nicht herum: Sie darf nicht verletzt werden. Es gibt inzwischen viele Bereiche, in denen das Fehlen dieser Grenze offenbar geworden ist. Die schon genannten Landräubereien in Afrika sind kein Produkt des Zufalls, sondern Folge einer hemmungslosen Unterordnung aller ethischen, sozialen und kulturellen Belange der Welt unter die Bedingungen eines spekulativen Finanzkapitalismus. Dieser ist nicht vom Himmel gefallen. Die politisch hergestellte Liberalisierung dieser Märkte wurde mit Wachstum und Wohlstand im Sinne einer technischen Sachrationalität begründet. Dies ist die Voraussetzung für die Anhäufung von spekulativen Geldkapital, das aus dem Nichts geschöpft wird und nun gewinnbrin­gend die Ressourcen der Welt ausbeutet. Landräubereien sind ein Teil davon. Sie sind keine zu regu­lierende Ausnahme, sondern sie liegen in der Rationalität dieser Märkte. Sie sind wirtschaftlich ebenso rational wie eine Getreidespekulation, die die vom Landraub betroffene Bevölkerung beson­ders betrifft. Wer nur die Folgen dieser Perfidie betrachtet, die in einer Völkerwanderung bestehen und zur Belastung europäischer Länder mit Zuwanderern führen, verschweigt gleichzeitig die Ursa­chen. Sie zu beseitigen – oder besser – sie zu verhindern, wäre mit einer Grenzbestimmung zur Unan­tastbarkeit der Menschenwürde möglich. Denn dass diese nur einer Spekulation geschuldeten Ein­griffe in die Existenz ganzer Völker gegen die Würde verstoßen, muss sicher nicht sonderlich disku­tiert werden.

Aber wir müssen nicht nach Afrika blicken, um Fragen der Grenzziehung menschlicher Würde zu stel­len. Mit der Riester-Rente wurden Menschen gezwungen, mit ihrer Altersrente einen wesentlichen Teil ihres Lebens den Finanzmärkten anzuvertrauen. Auch hier gilt, dass das elementare Bedürfnis nach Sicherheit und Selbstbestimmung den Spekulationsmärkten untergeordnet wurde. Auch hier wurde die Liberalisierung der Finanzmärkte mit dem angeblichen Sachzwang freier Märkte begrün­det.

Die Lage in unserem Land legt Fragen nach weiteren Zusammenhängen nahe. In einer der wenigen sehenswerten Fernsehsendungen berichtete der Wissenschaftsjournalist Scobel, in Deutschland würde ein „Pessimismus um sich greifen“. Es ging in der Sendung um die Orientierung und wach­sende Radikalisierung vor allem junger Menschen. 

Was dort in der Sendung als Fehlorientierung charakterisiert wurde, stellt sich im Hinblick auf eine von allen Werten entkleidete Gesellschaft aus meiner Sicht nur als deren Quintessenz dar. Wenn eine totale Unterordnung des Menschen unter die Funktionsbedingungen spekulativer Märkte als verein­bar mit der Menschenwürde behandelt wird, sind Radikalisierungen eher das Resultat einer interes­segeleiteten Politik als eines individuellen Orientierungsdefizites. Es sind grundsätzliche Krankheiten einer Gesellschaft, die als Radikalisierung bei Individuen auftreten und deshalb als individuelle Fehlo­rientierungen erscheinen mögen.


Zum Abschluss

Die Würde des Menschen hat einen hohen Stellenwert, wenn sie als Begrenzung von Möglichkeiten auch praktisch wird. Aber die notwendige Debatte darum muss natürlich weitere Fragen ansprechen. Eine der zentralen Fragen ist: Wer ist eigentlich verantwortlich für die Verfassung. Es scheint dringend geboten, die Frage nach der Souveränität des Volkes über die Verfassung neu zu stellen und sie in der alleinigen Kompetenz des Volkes auch zu beantworten.

 
 

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