Deutschland vor den Wahlen: ein Land in Unsicherheit und
Zukunftsangst
Anmerkungen aus einer Summe persönlicher Gespräche und
Eindrücke
von Heinz
Kruse
(2017)
Eine Vorbemerkung
Ich habe Wahlkampfzeiten mit ihren hohlen Phrasen und den leeren
Versprechungen nie gemocht. Nach wie vor gilt für Wahlaussagen: Wie
versprochen, so gebrochen. Ich dachte, das geht weiter so mit dem Trott von
Parteien und Medien. Aber die Welt hat sich verändert. Es gibt eine bizarre
Spaltung. Einerseits die Parteien mit ihrer medialen (nicht nur
öffentlich-rechtlichen) Propaganda. Sie zeichnen das Bild einer heilen
Wohlstandswelt. Andererseits äußern immer mehr Menschen Zweifel, Sorgen und
Angst.
Die heile Fassade bröckelt
Glaubt man den Medien, gibt es eine Bevölkerung, die das Verhängnis unserer
politischen Lage äußerlich unberührt lässt. Sie wollen alles belassen wie es
ist und sie wählen Merkel. Kratzt man aber nur ein wenig an der Oberfläche,
zeigen sich völlig andere Bilder. Private Gespräche in den Umkleideräumen
nach dem Sport, beim Einkaufen, bei Versammlungen, Familientreffen oder nach
Tagungen offenbaren Unsicherheit und Verwirrung, politische
Unentschiedenheit, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Wut und Hass. Die
Wirkung der Propagandamaschinen scheint zu verpuffen.
Die einst satten Bürgerinnen und Bürger in Deutschland haben Zukunftsangst.
Sie sind zudem orientierungslos. Umfragen haben ausgedient, der politische
Meinungsdruck ist zu groß, um sich noch zu offenbaren und auch der ‚Wahlomat‘
ist wenig hilfreich und spuckt unbefriedigende Ergebnisse aus. Vom blinden
Glauben an die Kompetenz der Parteien, ist ein großes Misstrauen geblieben.
Geht man in die Tiefe und fragt nach den Gründen von Angst, Wut und Hass,
zeigt sich, dass die Unzufriedenheit einen harten Kern hat. Der Zeitgeist
wendet sich von den traditionellen Parteien ab. Er ist viel realistischer,
als alle Umfragen zeigen könnten.
Trotz aller Zweifel klammern sich immer noch erstaunlich viele, vor allem
ältere Menschen an die Illusion, Merkels Absicht ist, den Status quo
sichern: gemeint ist, einen Teil des vorhandenen Wohlstands zu retten. Ihre
Hoffnung ist, selbst noch weitgehend ungeschoren davon zu kommen. Sie können
sich nicht vorstellen, dass vergleichbare oder schlimmere Zustände, wie in
der großen Weltwirtschaftskrise, heute möglich sein könnten. Dies ist der
letzte Trumpf für Merkel und eine Schlappe für die SPD. Von Merkel
versprechen sich viele, dass sie bemüht ist, den Status quo zu retten. Sie
sehen nicht, dass Schulz und Merkel in gleicher Weise handlungsunfähig sind.
Man scheut Veränderungen bei den Wahlen aus Angst vor Instabilitäten. Aber
es mischen sich immer mehr Zweifel und eine wachsende Angst vor der Zukunft
in diese Hoffnung.
Das Schlimme liegt in der Zukunft und nicht in der Vergangenheit
Für die Nachkriegsgeneration lag das ‚Schlimme‘ (Faschismus und Krieg) in
der Vergangenheit. Die Zukunft dagegen war voller Wohlstandsverheißungen.
Das hat sich völlig gedreht: Wenn es etwas Schlimmes gibt, dann liegt es für
die Generationen von heute nicht mehr in der Vergangenheit, sondern in der
Zukunft. Mit ihr verbindet sich ein diffuses Unbehagen. Das Unbehagen ist
eine Mischung aus wirtschaftlich-sozialen Bedrohungen, wachsender
Kriminalität, politischer Handlungsunfähigkeit und nicht zu lokalisierenden
anderen Ursachen. Das Ergebnis ist ein Bild von Unsicherheit und Angst.
Die jüngere Generation (unter 40) wird oft als überwiegend apolitisch
bezeichnet. Gleichwohl hat sie einen sehr klaren Blick auf die politischen
und sozio-ökonomischen Verhältnisse. Sie haben nicht die Glücksverheißungen
der Wohlstandsgesellschaft, sondern deren Schattenseiten: Schlechte
Ausbildungsbedingungen, HARZ IV, hohe Mieten und wachsende Kriminalität im
öffentlichen Raum. Sie sind betroffen von inakzeptablen Sozialkosten und sie
verbinden eine schlechte Gesundheitsinfrastruktur mit dem Bewusstsein, im
Alter keine Leistung zurück zu bekommen. Wahlreden versehen sie mit der
Überschrift: Es gilt das gebrochene Wort.
Sie sehen in der Dominanz von (Finanz-) Konzernen) sowie in der
bevorstehenden Durchsetzung der sog. künstlichen Intelligenz ihren Status
bedroht. Sie sehen aber auch die demokratische (rechts- und
sozialstaatliche) Zukunft bedroht. Neben der technologischen Bedrohung von
Status und Arbeitsplatz ist für sie die Migration eine Last für die Zukunft,
da sie die Integrationsprobleme für unlösbar halten. Hier hat sich die
Politik bereits als nicht handlungsfähig erwiesen. Auch der radikale Islam
wird als Problem gesehen – als religiöse und ideologische Bedrohung moderner
Lebensformen.
Noch krasser sehen politisch engagierte Menschen die Lage. Sie erkennen in
Deutschland Strukturen einer neuen Klassengesellschaft. Schließlich hat sich
der Kapitalismus, der sich nach 1989 ohne Alternative glauben konnte, 2008
als System mit hoher Verletzlichkeit erwiesen. Die Interessen des
Finanzkapitalismus stehen einem sozialen Rechtsstaat immer offensichtlicher
entgegen. Es wird als unwahrscheinlich eingeschätzt, dass der jetzige
Finanzkapitalismus friedlich zu beenden ist. Weltweite Militäreinsätze,
Waffenverkäufe und religiöser Terror zeigen, dass Krieg und die Zerstörung
des zivilen Friedens wieder eine reale Gefahr sind.
Ein Gesamtbild
Hinter der Fassade des angeblich reichen Deutschlands wird sichtbar, dass
die Grundstimmung besorgt und die Zukunftserwartungen deutlich pessimistisch
sind. Dafür gibt es vielfältige Gründe: Arbeitslosigkeit, unterbezahlte
Zeitarbeit, fehlende soziale Absicherung, schlechtes Gesundheitssystem,
keine Hilfe in Notlagen, schlechte Schulbedingung für Kinder und
Enkelkinder, Sorgen um das marode Finanzsystem in Europa und der Welt und
nicht zuletzt die Zerstörung von Rechtssicherheit und Frieden in der Welt
wie bei uns im Land. Politische wie mediale Propaganda und Realität
widersprechen sich. Deutschland wird wie ein Wechselbild beschrieben:
Entweder als marodes, verwahrlostes Land oder als sichere Insel des
Wohlstands in einem Meer aus Risiken. Dieser Widerspruch führt zu
emotionalen Ausbrüchen bei denen, die der Propaganda nicht mehr glauben. Ich
habe solches Toben und Wüten, so viel Hass in den Gesprächen noch nie
erlebt.
Die einzelnen Gründe zeigen, dass das Gesamtbild keinem Gefühl entspringt.
Es entspricht den Auswüchsen des politischen wie des finanzkapitalistischen
Systems. Das Gefühl bildet den Zeitgeist ab.
Man kann das Bild vieler Menschen wie folgt zusammenfassen: Unsere Parteien
treten die Ordnung des Rechts und damit den Rechtsstaat mit Füßen, sie
machen mit dem Grundgesetz, was sie wollen, und sie haben den Sozialstaat an
den Finanzkapitalismus verraten. Europäische Verträge wie Lissabon und
Schengen sind nicht ihr Papier wert und die Grenzen für einen dauerhaften
Frieden, sind durch imperiale Militäreinsätze überall auf der Welt längst
überschritten.
Zum Schluss sei noch eine Studie zitiert. Sie wurde vom
Edelmann-Trust-Barometer durchgeführt. Sie beruht auf Umfragen in 28 Ländern
mit mehr als 32.000 befragten Menschen. Zitat: Es wird immer schlimmer: Das
Vertrauen der Menschen in die politischen und gesellschaftlichen
Institutionen erodiert. Politikern, Managern, Nichtregierungsorganisationen
und auch den Medien wird immer weniger vertraut. Die Mehrheit der Menschen
glaubt inzwischen, dass das aus diesen Säulen gebildete „System“ nicht mehr
funktioniert.
Man kann also feststellen, dass sich die Stimmung in Deutschland parallel
zum Zeitgeist bewegt. Die Transformation zwingt uns, unsere Grundlagen zu
überdenken und grundlegend zu reformieren. Das wirft eine Frage auf: Reicht
es den Bürgerinnen und Bürgern zu kritisieren, und ihre schlechte Laune vor
sich herzutragen, oder sind sie bereit zum Handeln. Sicher ist, eine
Zukunftsperspektive für unser Land setzt aktives politisches Handeln voraus.
Wer handeln will, muss überlegen, wie er den ersten Schritt tun kann. Eine
Verfassung vom Volk kann dieser erste Schritt sein.
Heinz Kruse |