Bittsteller bleiben?
Reformkräfte am Scheideweg am Beispiel von
ein Grundsatzkommentar von Heinz Kruse
August 2016
Wir begrüßen den offenen Brief (s.
hier >>) von MEHR DEMOKRATIE in Sachsen-Anhalt. Er zeigt, wo Mehr
Demokratie steht und er gibt uns die Möglichkeit zu zeigen, dass Mehr
Demokratie sich entscheiden muss, ob es seine bisherige Rolle als
Bittsteller gegenüber der Politik fortsetzen will. Gleichzeitig zeigen wir,
welche wesentlichen Unterschiede zwischen dem Ansatz von MD in Deutschland
und unserem Ansatz bestehen.
Mehr Demokratie muss sich entscheiden
Der offene Brief drückt das Prinzip und die durchaus anerkennenswerte Arbeit
von MEHR DEMOKRATIE deutlich aus. Es besteht darin, politisch Inhalte (z.B.
Direkte Demokratie) politisch durchsetzungsreif zu machen. Dabei nimmt MEHR
DEMOKRATIE allerdings die Rolle eines Bittstellers gegenüber der Politik
ein, denn Mehr Demokratie drückt sich vor der Frage, ob Direkte Demokratie
ohne eine Verfassung vom Volk überhaupt verwirklicht werden kann.
Die Parteien haben sich vom Volk abgekoppelt
Eine politische Kampagne macht nur Sinn, wenn der Adressat – in diesem Fall
die Parteien bzw. die Regierung – auf Kampagnen oder auf vergleichbare
Formen von Kritik noch reagiert. Dies ist erkennbar seit geraumer Zeit nicht
mehr der Fall. Wiederholt deutlich wurde dies am Fall des Widerstandes gegen
CETA und TTIP. MEHR DEMOKRATIE, Campact, Gewerkschaften und Kirchen haben
mehr als 300.000 Menschen zu Protesten auf die Straße gebracht und das in
den wesentlichen Großstädten unseres Landes. Gab es Erfolge? Die
mitdemonstrierenden SPD-Leute haben wenige Tage danach freies Licht für
Gabriels CETA-Politik gegeben. So veralbert man Bürger und Bürgerinnen und
treibt sie in die Resignation. „Nimm das Recht weg, was bleibt von einer
Regierung als eine Räuberbande“, ist man geneigt, mit dem hl. Augustinus zu
sagen.
Politik als Steigbügelhalter finanzpolitischer Raubritter
Vom Euro und der Finanzmarkliberalisierung angefangen bis hin zu CETA und
TTIP durchzieht ein roter Faden unsere deutsche wie die europäische Politik.
Es ist das übermächtige Interesse der spekulativen Finanzwirtschaft, das
immer wieder bedient wird und sich durchsetzt. Wenn es um Finanzinteressen
geht, bilden unsere Parteien (ausgenommen die Linke und die AfD) einen
gemeinsamen Block. Immer mehr Menschen fragen sich, ob unsere Parteien am
Gängelband der Finanzwirtschaft zu Marionetten verkommen sind. Es reicht ein
vertiefter Blick auf die Entwicklung der vergangenen Jahre um zu erkennen,
dass es immer bestimmte Interessen sind, die sich politisch Raum schaffen.
Wenn eine Politik derart durch eigenes Kalkül und wirtschaftliche Interessen
blockiert ist, haben Proteste keinen Adressaten mehr. Deshalb bleiben alle
Forderungen nach mehr Demokratie durch Volksabstimmungen auf Bundesebene
(z.B. von MEHR DEMOKRATIE und vielen anderen Gruppen) ohne politische
Resonanz. Die Feudalherren unserer Parteien sind nicht geneigt, dem Volk
legitime Mitwirkungsrechte zuzugestehen.
Stagnation wird zementiert
Damit kommen wir zum wesentlichen Unterschied zwischen unserem Konzept einer
Verfassung vom Volk und dem Ansatz von MEHR DEMOKRATIE e.V. Kurz und
knapp: MEHR DEMOKRATIE überlässt die Entscheidung über politische
Veränderungen den Parlamenten und damit den Parteien und nicht dem Souverän,
also den Bürgerinnen und Bürgern direkt. Für die Einführung von MEHR
DEMOKRATIE geforderten Volksabstimmungen auf Bundesebene zum Beispiel ist
eine Verfassungsänderung notwendig. Hierüber entscheidet der Bundestag, also
die Parteien. Sie haben die Einführung von Volksabstimmungen aber in über 65
Jahren Grundgesetz und vielen Bürgerinitiativen zum Trotz abgelehnt. Eine
Grundgesetzänderung durch den Souverän, also das Volk, sieht das GG nicht
vor. Will das Volk aber in stärkerem Maße über sich selbst bestimmen, muss
es den Artikel 146 anwenden und den Weg am Parteienapparat vorbei gehen und
das Grundgesetz direkt ändern. Das kann über den Artikel 146 GG erfolgen.
Explizit wird die Anwendung von Art. 146 GG aber von MEHR DEMOKRATIE e.V.
abgelehnt, wenn sie abschließend feststellen (s.
MD-Positionspapier 18, S. 11):
Mehr Demokratie schließt sich der Auffassung
von Dreier und anderen an, dass es nur bei einer grundlegenden Staats- oder
Verfassungskrise oder in Umbruchssituationen zu einer Aktivierung des Art.
146 GG kommen wird. Dies sehen wir derzeit nicht als gegeben an.
Es ist eine reine Schutzbehauptung, wenn Mehr Demokratie sagt, dass es nur
bei einer grundlegenden Staats- oder Verfassungskrise oder in
Umbruchssituationen zu einer Aktivierung des Art. 146 GG kommen wird. Da sie
dies derzeit nicht als gegeben ansehen, verharren sie auf ihrer alten
Position. Da die Parteien von sich aus natürlich auf ihren Machtpositionen
verharren, gibt es zur Direkten Demokratie keinen Fortschritt. Der von MEHR
DEMOKRATIE eingeschlagene Weg über die Parteien und die gleichzeitige
Verhinderung der Anwendung von Art. 146 GG zementiert daher die gegenwärtige
Stagnation. Diese Beobachtung zwingt zum Umdenken, wir gehen daher einen
anderen Weg.
Demokratische Weiterentwicklung am Parteienstaat vorbei
Wir wollen eine Demokratie, in der das Volk herrscht und damit Souverän ist.
Dann kann es die Grundlagen und Regeln der Politik selbst bestimmen. Das
Volk soll sich selbst die Möglichkeit geben, die Grundlagen und Regeln der
Politik zu bestimmen. Damit legt das Volk gleichzeitig fest, welche Bereiche
z.B. von der Willkür politischer Kräfte befreit werden. Damit könnte es z.B.
politischen Tricksereien in der Währungs- und Finanzpolitik, wie wir sie bei
der Euro-Einführung, den sogenannten Banken-Rettungen und der Abgabe von
Kompetenzen an eine abgehobene EZB erleben mussten, ein Riegel vorschieben.
Grundentscheidungen über existentielle Fragen unseres Landes sollen nach
unserer Auffassung nur noch möglich sein, wenn das Volk sein Einverständnis
dazu mit einer Volksentscheidung erklärt!
Die Umsetzung dieser Ziele hängt vom Volk ab
Wir sind keine Bittsteller. Eine Verfassung vom Volk ist unser Recht. Es
wäre auch dann unser Recht, wenn es keinen Art. 146 GG gäbe. Dazu brauchen
wir keine Revolution, sondern wir organisieren selbst eine Volksabstimmung,
mit der wir den Text des GG als Verfassung annahmen und lediglich an wenigen
Stellen ändern. Dabei geht es insbesondere um den Artikel 20, um darin die
Möglichkeit von Volksabstimmungen und Volksbefragungen zu verankern.
Wir haben uns für diesen einfachen und leicht nachvollziehbaren Weg
entschieden. Wir wollen keine neue Verfassung schreiben, sondern wir wollen
mit der Textübernahme die Rechtskontinuität wahren. Vor allem aber soll das
Volk künftig als Souverän über die Richtung, die Geschwindigkeiten und den
Umfang von Reformen selbst entscheiden.
Die Politik ist zukunftsunfähig
Wir haben diesen Weg eingeschlagen, weil wir wissen, dass wir in einer
Zeitenwende (einer globalen Transformation) leben, in der es nicht nur um
ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Natur geht, sondern auch um eine
neue Form von Politik. Wir sind zukunftsorientiert. Es geht uns also nicht
nur darum, die Politik von ihrer Sprunghaftigkeit und ihrem hilflosen
Krisentaumel abzuhalten und vor allem um den Zugriff einer hochspekulativen
Finanzwirtschaft auf unsere Politik zu unterbinden. Vielmehr wollen wir die
Zukunftsfähigkeit unseres Landes durch eine lern- und veränderungsfähige
Politik wieder herzustellen. Die politischen Formen und Inhalte werden sich
nach unserer Meinung an neue Bedingungen anpassen müssen. Zentralistische
und bürokratische Strukturen werden diese Anpassungen nicht leisten können.
Deshalb brauchen wir eine evolutionäre Bürgerdemokratie.
Eine Verfassung vom Volk ist ein Türöffner für Reformen
Wir sehen unser Reformkonzept als Türöffner für einen friedlichen
Reformprozess, der in einer evolutionären Bürgerdemokratie münden sollte.
Aber wie diese aussieht muss eben nicht von irgendwelchen Gruppen (auch
nicht von uns), sondern vom Volk getragen und entschieden werden. Viel
spricht dafür, in unserer Lage nicht mit groß angelegten Reformen zu
arbeiten. Es gibt keine Patentlösung für die Zukunft.
Eine Verfassung vom Volk ist keine Patentlösung unserer Probleme. Aber sie
öffnet Türen, indem sie die Verkrustung unserer Politik auflöst. Damit
schafft sie eine stabile Basis für eine Reform der Politik. Sie ist im Kern
die Voraussetzung für Dezentralisierung und Selbstbestimmung in der Politik.
Dezentralisierung, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung werden – wie wir
heute schon wissen – die Kernelemente einer neuen Welt sein.
Mit dem Volk oder gegen das Volk – Tertium non Datur
MEHR DEMOKRATIE und andere große Verbände der Zivilgesellschaft stehen
insofern vor einer Grundentscheidung. Das genau hatten die Verfasser des
offenen Briefes im Sinn, als sie folgendes formulierten: „Souverän ist, wer
die Inhalte der Verfassung bestimmt. Die Hoheit über die Verfassung muss
deshalb in einer Demokratie in die Kompetenzen des Volkes gelangen. Das
Prinzip der Volkssouveränität bestimmt das Volk zum souveränen Träger der
Staatsgewalt. Die Verfassung als politisch-rechtliche Grundlage eines
Staates oder auch eines Bundeslandes beruht danach auf der
verfassungsgebenden Gewalt des Volkes.“ Diese Forderung ist nur umzusetzen,
wenn MEHR DEMOKRATIE den Art. 146 in unserem Sinne in Anspruch nimmt.
MEHR DEMOKRATIE muss sich also entscheiden: Sie müssen sich erklären, wollen
sie das originäre Recht des Volkes mit Hilfe einer Verfassung vom Volk
umsetzen, oder wollen sie weiter in ihrer Bittsteller-Rolle verharren. Soll
weiterhin versucht werden, eine im Kern historisch überholte
Parteienstruktur anzubetteln, um winzige Reformen zu ertrotzen, oder gehen
sie unseren Weg einer Fundierung für eine demokratische Erneuerung. Mit
Demonstrationen und Protesten allein wird es keine grundlegenden Reformen
geben. Eine demokratische Erneuerung muss grundsätzlich erfolgen. Sie ist
mit der Durchsetzung einer Verfassung vom Volk verknüpft. Eine Entscheidung
zu diesen Punkten wird man Mehr Demokratie, Campact und anderen
Vereinigungen nicht abnehmen können.
Wir haben uns entschieden für einen friedlichen Weg. Eine Verfassung vom
Volk ist ein erster Schritt auf den Weg von der Parteienherrschaft in eine
evolutionäre Bürgerdemokratie. An der Verwirklichung dieses Schrittes
arbeiten wir. Natürlich suchen wir auf unserem Weg, Bürgerinnen und Bürger,
die mitmachen und auch tatkräftige Verbündete! |