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 - ein offener Brief


Der nachstehende Brief ist von
MEHR DEMOKRATIE e. V. veröffentlicht worden >>.
Wir nehmen in einem gesonderten Artikel
hierzu Stellung >>.

 

An alle Bürgerinnen und Bürger des Landes und an die Fraktionen im Landtag von Sachsen-Anhalt

von Martin Giersch und Hans-Dieter Weber

Halle, im August 2016

Sehr geehrte Mitbürger,

Sehr geehrte Mitglieder des Landtages von Sachsen-Anhalt,

die Landtagswahl 2016 in Sachsen-Anhalt war ein politisches Erdbeben. Die Wahlergebnisse wurden und werden vielfältig und kontrovers diskutiert. Eine neue Landesregierung ist im Amt und hat auf Grundlage der Koalitionsvereinbarung ihre Arbeit aufgenommen. Als Landesverband Sachsen-Anhalt von Mehr Demokratie e.V. nehmen wir dazu wie folgt Stellung:

Mehr Demokratie e.V. ist ein überparteilicher, gemeinnütziger Verein, der sich 1988 mit dem Ziel gegründet hat, die Möglichkeiten direkter Mitbestimmung für Bürgerinnen und Bürger zu fördern und auszubauen. Sachverständige Mitglieder des Vereins Mehr Demokratie stoßen Reformen der direkten Demokratie an und begleiten diese. Schon seit mehreren Jahren erstellt Mehr Demokratie ein bundesweites Ranking der Bundesländer, welches die in den einzelnen Ländern bestehenden Möglichkeiten von Volksentscheiden auf Ebene des Landes bzw. der Kommunen bewertet und vergleicht. Weiterhin setzt sich Mehr Demokratie durch vielfältige Initiativen für bundesweite Volksentscheide, für ein demokratisches Europa sowie demokratische Wahlgesetze ein.

Wir begrüßen es, dass sich die in Sachsen-Anhalt regierende Koalition in ihrem Koalitionsvertrag ausdrücklich zur „Demokratieförderung“ bekennt. Dort heißt es: „Nicht erst das Ergebnis der Landtagswahlen markiert einen erheblichen Vertrauensverlust gegenüber der parlamentarischen Demokratie. Regierung und demokratische Parteien können darüber nicht zur Tagesordnung übergehen.“ Und weiter: „Unsere Antwort auf Bedrohung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie auf Ausgrenzung ist mehr und nicht weniger Demokratie und Transparenz.“ An anderer Stelle: „Ziel der Koalitionspartner ist es, das zivilgesellschaftliche Engagement der Bürgerinnen und Bürger zu fördern und Hürden der Beteiligung an politischen Prozessen abzubauen, damit Demokratie erlebbar wird.“

Enttäuschend ist für uns dann allerdings die daraus abgeleitete Zielstellung: „Die Koalitionspartner sind sich deshalb darin einig, die betreffenden direktdemokratischen Elemente mit dem Ziel einer Angleichung an denbundesrepublikanischen Schnitt zu evaluieren und anzupassen.“

Wir vertreten die Auffassung, dass eine „Angleichung an den bundesrepublikanischen Schnitt“ alleine nicht ausreichen wird, um verlorenes Vertrauen zurück zu gewinnen. Vielmehr sollte es Ziel sein, dass unser Land zukünftig einen Spitzenplatz beim Demokratie-Ranking der Bundesländer einnimmt.

Mit einer ernsthaften Verwirklichung praxistauglicher Mitbestimmungsrechte lässt sich unserer Überzeugung nach die mittlerweile tiefe Kluft zwischen Bürgerinnen und Bürgern einerseits sowie Parteien, Volksvertretern und Regierung andererseits, Schritt für Schritt wieder schließen. Im leider weit verbreiteten Vertrauensverlust in die Landespolitik sehen wir die eigentliche Gefahr für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in unserem Land. Deshalb möchten wir Ihnen hiermit unsere Hauptpunkte zur Weiterentwicklung der Demokratie in Sachsen-Anhalt unterbreiten, verbunden mit der Bitte, diese in die parlamentarische Arbeit einzubeziehen.

 

1. Reform der direkten Demokratie in Sachsen-Anhalt: Praktikabel regeln und Hürden spürbar senken

Direkte Demokratie ist in Sachsen-Anhalt sowohl auf Kommunalebene (Bürgerbegehren, Bürgerentscheide), als auch auf Landesebene (Volksbegehren, Volksentscheide), prinzipiell möglich. Aber die Hürden dafür sind auch im Vergleich mit anderen Bundesländern viel zu hoch, sodass direkte Demokratie in der politischen Praxis bisher kaum eine Rolle spielt.

Kommunalebene:

Bürgerbegehren: Für Bürgerbegehren gilt ein Unterschriftenquorum von 10 Prozent der Wahlberechtigten. Trotz Absenkung 2014 ist das unverändert zu hoch. Sinn und Zweck eines Unterschriftenquorums ist es nicht, den Bürgerinnen und Bürgern Steine in den Weg zu legen, sondern zu ermitteln, ob ein Thema relevant genug für einen Bürgerentscheid ist. Deshalb schlagen wir vor, das Unterschriftenquorum auf 5 Prozent der Wahlberechtigten zu senken. Die Frist von 2 Monaten für Bürgerbegehren, die sich gegen einen Gemeinderatsbeschluss richten, soll gestrichen werden. Anstelle dessen soll eine Frist von einem Jahr gelten, nach der die Unterschriften ihre Gültigkeit verlieren. Der verpflichtende Kostendeckungsvorschlag ist zu streichen.

Bürgerentscheid: Beim Bürgerentscheid müssen gegenwärtig zusätzlich zur einfachen Mehrheit 25 Prozent aller Wahlberechtigten zustimmen (Zustimmungsquorum). Das soll abgeschafft werden. Es entscheidet die einfache Mehrheit der Abstimmenden, so wie auch bei Wahlen.

Themenausschluss: Der Themenausschluss für Bürgerbegehren und Bürgerentscheide soll deutlich reduziert werden. Die Bürgerinnen und Bürger sollen zukünftig auch über ihre Gemeindefinanzen und Bauprojekte entscheiden können. Es lähmt den politischen Gestaltungswillen der Bürger, ist ihre Entscheidungskompetenz in allen wichtigen Belangen des Zusammenlebens nicht grundsätzlich gegeben.

Landesebene:

Volksbegehren: Ein Volksbegehren muss von mindestens 9 Prozent der Wahlberechtigten unterstützt werden. Das ist deutlich zu hoch und soll auf 5 Prozent gesenkt werden.

Volksentscheide: Für Volksentscheide gilt: Zusätzlich zur einfachen Mehrheit müssen 25 Prozent aller Wahlberechtigten zustimmen. Die Folge davon ist, dass es bisher in Sachsen-Anhalt nur einen einzigen Volksentscheid gegeben hat, der jedoch am zu hohen Zustimmungsquorum scheiterte. Das Zustimmungsquorum soll deshalb abgeschafft werden. Es entscheidet die Mehrheit der gültigen Stimmen, so wie bei Wahlen.

 

2. Reform des Landtagswahlrechts: Unmittelbaren Einfluss der Wählerinnen und Wähler stärken

Wahlen sind das zentrale Element einer parlamentarischen Demokratie. Das Volk als alleiniger Ursprung und Bezugspunkt allen staatlichen Handelns (Volkssouveränität) wählt aus seiner Mitte Abgeordnete seines Vertrauens. Nach der Landesverfassung werden die Abgeordneten “nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet.“ Im Landeswahlgesetz wird dies konkretisiert: „Jeder Wähler hat zwei Stimmen, eine Erststimme für die Wahl eines Kreiswahlvorschlages, eine Zweitstimme für die Wahl eines Landeswahlvorschlages.“ Die Wahl der Wahlkreisabgeordneten ist eine Personenwahl, bei welcher der Kandidierende gewählt ist, der die meisten Stimmen erhalten hat. Mit der Zweitstimme wird die Liste einer Partei gewählt, die nicht mehr verändert werden kann. Bei dieser Listenwahl müssen die Wählerinnen und Wähler also die Liste einer Partei unverändert akzeptieren und können die Reihenfolge der Kandidaten nicht mehr ändern. Das führt dazu, dass bisher über die unmittelbare (direkte) Vergabe der Mehrzahl der Mandate nicht die Wählerinnen und Wähler, sondern die Parteien entscheiden. In dieser Wahlperiode sind es 44 von 87 Mandaten, die so vergeben wurden. In der Wahlperiode davor waren es auf Grund von Überhang- und Ausgleichsmandaten sogar 60 von 105 Mandaten. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass gegenwärtig alle im Landtag vertretenen Parteien in der Summe deutlich weniger als 20 Tausend Mitglieder haben. Damit repräsentieren sie weniger als 1 Prozent aller Wahlberechtigten, entscheiden aber unmittelbar (direkt) über die Mehrzahl der Mandate. Das ist ein Widerspruch.

Wir schlagen deshalb vor, dass zukünftig die Wählerinnen und Wähler aus offenen Listen die Abgeordneten ihres Vertrauens selbst auswählen können, so wie dies seit Jahren auch bei Kommunalwahlen bereits bewährte Praxis ist. Dazu sollen sie mehr als die bisher 2 Stimmen bekommen, welche auch durch Kumulieren (auf Kandidaten innerhalb derselben Liste) und Panaschieren (auf Kandidaten verschiedener Listen) vergeben werden können. Nach diesem Verfahren wird auch die Bürgerschaft in Hamburg und Bremen gewählt. Die Landtagswahlgesetze von Bayern und Baden-Württemberg kennen gleichfalls keine geschlossenen Landeslisten. Wahlgesetze regeln die demokratischen Rechte der Wählerinnen und Wähler. Deshalb sollen Änderungen der Wahlgesetze generell unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Volkes stehen (obligatorisches Referendum).

 

3. Reform der Landesverfassung von Sachsen-Anhalt: Dauerhafte Souveränität des Volkes über ihre Landesverfassung herstellen

In einer Demokratie geht alle Macht vom Volke aus. Der Grundsatz der Volkssouveränität ist im Artikel 20, Absatz 2 des Grundgesetzes verankert: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Souverän ist, wer die Inhalte der Verfassung bestimmt. Die Hoheit über die Verfassung muss deshalb in einer Demokratie in die Kompetenzen des Volkes gelangen. Das Prinzip der Volkssouveränität bestimmt das Volk zum souveränen Träger der Staatsgewalt. Die Verfassung als politisch-rechtliche Grundlage eines Staates oder auch eines Bundeslandes beruht danach auf der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes. Die Landesverfassung von Sachsen-Anhalt soll in diesem Sinne ein Abbild des Willens des Volkes und damit auch des gesellschaftlichen Wandels sein. Eine Verfassungsgebung muss zudem flexibel auf die sich ändernden gesellschaftlichen Realitäten reagieren. Bisher haben die Bürgerinnen und Bürger von Sachsen-Anhalt aber noch nie über ihre Landesverfassung abgestimmt, sondern lediglich die Mitglieder des Landtages. Volksentscheide zur Änderung der Landesverfassung sind zwar rechtlich möglich, jedoch nur: „…wenn zwei Drittel derjenigen, die ihre Stimme abgegeben haben, mindestens jedoch die Hälfte der Wahlberechtigten zustimmen.“ Andererseits dürfen aber die Mitglieder des Landtages die Landesverfassung per Beschluss ändern, ohne dass hierzu ein Volksentscheid zwingend erforderlich wäre. Dies widerspricht den eingangs erläuterten Grundsätzen zur Volkssouveränität in einer Demokratie, welche in vielen demokratischen Staaten seit langem bewährte politische Praxis sind. Deshalb schlagen wir vor, dass Änderungen der Landesverfassung immer auch die Zustimmung des Volkes voraussetzen (obligatorisches Referendum). So wie bei Wahlen, soll dabei die Mehrzahl der gültigen Stimmen entscheiden.

 
 

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